Regisseurin Jade Halley Bartlett legt ihr Langfilmdebüt vor. Der vermeintliche Erotikthriller kreuzt Highschool-Drama mit Literaturgeschichte. Bartlett variiert das Lolita-Motiv Vladimir Nabokovs, zitiert Henry Miller und evoziert die Südstaaten-Gotik aus Tennessee Williams’ Theaterstücken. All der stimmungsvollen Elemente zum Trotz kommt ihr Debüt jedoch nicht über das Niveau einer in der Bahnhofsbuchhandlung erworbenen Schmonzette hinaus.
Von Beginn an klafft eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die Sätze, die die Titelfigur aus dem Off formuliert, besitzen literarische Qualität. Die kunstvoll komponierten Einstellungen, durch die die junge Frau zur Schule schreitet, verströmen eine gespenstische Atmosphäre. Doch was erzählt wird, ist purer Pulp. Gedreht wurde in Georgia, das als Double für den Nachbarstaat Tennessee herhalten musste. Hier wabert der Nebel allmorgendlich im Wald. Hier wohnt die Außenseiterin ganz allein auf einem Anwesen im Kolonialstil, das aussieht, als würde es darin spuken. Und die Geister, die sie ruft, wird sie so schnell nicht wieder los.
Jenna Ortega spielt diese 18-jährige Schülerin, die den Unterricht bei Englischlehrer Jonathan Miller (Martin Freeman) herbeisehnt. Denn Bücher sind ihr Rückzugsort. Bestens vorbereitet, hat sie vor Schuljahresbeginn nicht nur die gesamte Lektüreliste abgearbeitet. Sie hat auch Millers Debütroman gelesen, dem kein weiterer mehr gefolgt ist. Der Pädagoge ist beeindruckt, geschmeichelt und sukzessive hingezogen zu dieser jungen Frau mit der alten Seele, die lieber klug als sexy sein will und sich in ihrer Freizeit an James Joyces Finnegans Wake erfreut.
Sie heißt Cairo Sweet und trägt nicht als einzige einen Namen, der einem vor Klischees triefenden Jugendroman entnommen sein könnte. Ihre beste Freundin, die von einer Affäre mit dem Sportlehrer Boris Fillmore (Bashir Salahuddin) fantasiert und weibliche Teenager als „feuchten amerikanischen Traum“ eines jeden Mannes bezeichnet, heißt Winnie Black (Gideon Adlon). Die stellvertretende Schulleiterin hört auf den Namen Joyce Manor (Christine Adams) und Millers Ehefrau, die die in Selbstmitleid badende Mittelmäßigkeit ihres Mannes nur mit Hochprozentigem erträgt, Beatrice June Harker (Dagmara Dominczyk). So einfallslos und an Lächerlichkeit grenzend wie die Namen der Figuren ist leider auch der Plot.
Bartlett, die bei ihrem Debüt an der Seite von Hauptdarsteller Martin Freeman und Bernie Stern auch als ausführende Produzentin fungierte, hat das Drehbuch selbst verfasst. Ursprünglich war es als Zweiakter fürs Theater gedacht. Die Zweiakt-Struktur hat sie beibehalten. Sie erzählt die schon tausendmal erzählte Geschichte einer hochtalentierten Schülerin, die das Interesse ihres Lehrers weckt; die erst von ihm gefördert wird und ihn schließlich ihrerseits herausfordert, bis die Grenzen von Anstand und gebührendem Abstand verschwimmen. Ob tatsächlich etwas Unaussprechliches geschehen ist oder nur Cairo Sweets blühender Fantasie entspringt, die sich in ein Stück pornografische Literatur ergießt, das lässt Bartlett bis zuletzt offen.
Was diesen spannungsgeladenen Schwebezustand anbelangt, funktioniert der Film. Und auch die schauspielerischen Leistungen können sich sehen lassen. Jenna Ortega fügt ihrer noch jungen Karriere nach zwei Scream-Filmen, der Wednesday-Serie und der Horrorhommage X (2022) eine weitere Rolle hinzu, die irgendwo zwischen Kindchenschema, Sex-Appeal und Abgründigkeit oszilliert. Martin Freeman wiederum, der selbst mit Anfang 50 das Image des netten Jungen von nebenan nur schwerlich loswird, versucht sein Profil als böser Bube zu schärfen.
Woran der Film krankt, sind die dürftig geschriebenen Figuren. Deren irrationale Entscheidungen im zweiten Akt wischen ihre zuvor mühevoll aufgebaute Glaubwürdigkeit achtlos weg. Noch fragwürdiger als das Verhalten der Figuren ist Bartletts Umgang mit Klischees. In einem Interview hat die Regisseurin gesagt, dass ihr Film die gängigen Tropen unter die Lupe nehmen und umarbeiten möchte. Wer im vorliegenden Szenario das Opfer und wer der Täter sei, diese Frage wirft der Film mehrfach auf, ja, sie wird sogar gleich von mehreren Figuren explizit formuliert.
Vielleicht versteckt sich zwischen den Zeilen eine nuancierte Antwort darauf. Die Antwort, die Bartlett ihrem Publikum gibt, fällt jedoch plump aus: „Mädchen im Teenageralter sind gefährlich!“, warnt Beatrice June Harker ihren Mann in einer der vielen aus Wer hat Angst vor Virginia Wolf? (1966) entlehnten häuslichen Szenen. Das ist weder originär noch originell. Schlimmer noch: Das Narrativ einer gekränkten Schülerin, die sich aus Eifersucht mit falschen Anschuldigungen an ihrem Lehrer rächt, erweist allen Schutzbefohlenen, die tatsächlich zu Opfern werden, einen Bärendienst.
Miller’s Girl möchte so gern verruchter Erotikthriller sein und durch die Umkehr des Täter-Opfer-Schemas provozieren. Was angesichts der literarischen Werke, die im Film zitiert werden und die sich in vielen US-Bundesstaaten neuerlichen Zensurbestrebungen erwehren müssen, nur krachend scheitern kann. Das Verruchteste an diesem Film ist die eklatante Anzahl an Zigaretten, die darin konsumiert werden. Bartlett selbst beschreibt ihr Debüt als „gothic fairytale“, also als eine Art Schauermärchen – und liegt damit nicht ganz falsch. Zum Schaudern ist das Dargebotene, allerdings anders als angedacht.